Tod II


Schule aus. Die Gesichter betrübt. Wir haben gerade unsere Matheschulaufgabe zurück bekommen. Der Schnitt lag bei 4,28. Offensichtlich, daß viele nicht gerade erfreut sind. Es gab natürlich wieder gute Noten, Namen möchte ich nennen, ich gehörte leider nicht dazu. Obwohl ich Mathe doch eigentlich kann…

Jetzt treffe ich mich mit meinen Freunden vor der Schule. Und schon wieder diese traurigen Gesichter. „Was habt ihr denn ‚rausbekommen?“ „Latein“. Wie’s aussieht schaffen die dieses Jahr nicht. „Wollen wir nicht lieber über etwas anderes reden?“ „Sicher,…“ blablabla. Wie schön es doch ist Freunde zu haben, die schnell das Thema wechseln können. „Ciao, bis Morgen.“ „Ja. Bis dann dann.“ „Sag mal /(1)\. Wie lang hast du denn heute Schule?“ „Bis 14.45 Uhr“ „Schade, dann seh’n wir uns heute wohl nicht mehr. Ich hab‘ heute nur zwei Stunden früher aus — um halb vier. Buhuuu.“ Allgemeines gelächter.

Ich klettere also wieder die Stufen zum vierten Stock hoch. Ausser Atem. Mir wird ein bischen schwindlig. Hab‘ wohl zu wenig geschlafen. Im Klassenzimmer machen einige Hausaufgaben, andere reden, andere bauen Scheiße. Das übliche also…

Es leutet, Herr Macher kommt rein… oh moment

Es leutet, Rosi ist da. „So Leute. Ihr habt mich genervt, also schreiben wir ’ne Ex.“ Man sieht überall große Augen, hört Kopf auf die Tische fallen. Eine reine Grundwissen Ex. Ich hab‘ mal wieder nichts gelernt. Eine Viertelstunde später ist die Zeit um. Frau Rosenberger bittet einen zweiten Lehrer, Herrn Poßmann, in’s Zimmer. „Um euch noch eine besondere Freude zu machen werden wir die Ex jetzt sofort korrigieren. Eine vielsagende Stille tritt ein.

Zwanzig Minuten später haben es die beiden Lehrkörper doch tatsächlich geschafft. Ich kriege meine zweite 5 an diesem Tag.

In Musik schreiben wir nur eine Seite voll. Meine Hand bricht fast ab. Es gibt wenigstens einen kleinen Lichtblick: Sport fällt aus. Ich komme aus dem Musiksaal, da hält mich Herr Freiberger auf. „Könntest du bitte nach unten kommen? Es gibt eine Besprechung wegen der neuen Homepage des LPG.“ „Ja klar kann ich.“ Ich hatte versucht es ironisch klingen zu lassen. „Dann komm gleich mal mit.“ ‚Mist. Ich hasse es. Jetzt kann ich nicht mehr nein sagen.‘

Nach der Besprechung, will sagen eineinhalb Stunden später, gehe ich in Richtung Tram. Da fällt mir mit Schrecken ein: Ich bin ja mit dem Fahrrad gefahren. Ich geh‘ also wieder zurück. Kaum hab‘ ich mein Fahhrad aufgesperrt fängt es schon an zu regnen. Es sieht nicht so aus, als ob es bald aufhören würde. Ich trete also vorsichtig in die Pedalen und fahre in gemäßigter Geschwindigkeit in Richtung Heim. Zuhause angekommen, durchnäßt und müde, fragt mich meine Schwester was es neues gibt. Soll ich ihr die beiden Fünfer verschweigen? „Ich hab‘ einen Fünfer in Mathe und einen in Englisch.“ „Also… Mathe kannst du doch, und Englisch auch. Außerdem …“ Bumschlaberlaber.

Mein Kopf senkt sich je mehr ich ihr zuhöre. Ich hasse diese Standpauken. Je mehr sie redet, desdo schlimmer fühle ich mich. Die Last auf meinen Schultern wird immer schwerer. Mein Kopf füllt sich mehr und mehr mit bösen Worten. Während sie noch redet gehe ich wieder aus der Wohnung. ‚Ha soll sie doch reden! Sie versteht das halt nicht. Das geht sie auch gar nichts an.‘ Sie hatte diese Schwierigkeiten ja nicht. Sie hat ja immer gelernt. Sie hatte nicht diese Probleme die ich hab‘.‘ Ich gehe durch den Englischen Garten. Irgendwie ich achte ich nicht darauf. Ich denke nach: ‚Wie schön es als Kind doch war.‘ Es fängt an zu schneien. ‚Nicht diese lästige Schule.‘ Ich sah die lebendig wirkenden Bilder vor meinem geistigen Auge. ‚Dann die Grundschule. Ein schönes Gebäude. Hihi, wie wir immer gespielt und gesungen haben. Dann die Hauptschule. Ich hatte schnell Freunde gefunden. Aber ich bin froh, daß ich von dort wegkam. Und dann das Gymnasium. Am Anfang war es ja nicht so schwer, aber mit der Zeit wurde es schwerer und schwerer. Es sieht so als ob ich nicht mehr mithalten könnte. Wäre schade. Nicht nur wegen IHR, wenn ich durchfallen würde, wären meine Freunde dann trotzdem nicht in meiner Klasse, die fallen ja auch alle durch. außer /(2)\ .Und das ist der lustigste von allen.‘

‚Heißt es nicht, daß kurz bevor stribt das ganze Leben nochmal vor einem abläuft? Nochmal? Mit allen Fehlern die ich gemacht hatte? Und die guten Seiten. Welche guten Seiten?‘ Ich komme an der Hirschau vorbei und gehe Richtung Kleinhesseloher See.

‚Will ich mir wirklich nochmal mein ganzes Leben anschauen müssen? Will ich nicht einfach aufhören? Ich könnte mich im Kleinhesseloher See ertränken.‘

Ich schaue auf die Straße unter mir. Ich sehe wie die Autos unter mir fahren. Langsamer als sonst. Es schneit. Es wäre gefährlich schneller zu fahren, nicht nur für einen selbst. Ich denke darüber nach, wie es mir wohl ergehen würde, wenn ich einen Unfall bauen würde. Mich schauderts. Ich sehe Scheinwerfer auf mich zukommen. Einige gelblich, einige ganz weiß. Ich sehe einige Rückstrahler. Aber nie ein Auto ohne Licht. Die Schneeflocken fallen langsam nach unten. Hat was von Ästhetik. Dicke Flocken. Manchmal in schiefen Bahnen. Vom Winde verweht. Nicht so schnell wie die Regentropfen. Aber trotzdem ungeheuer viele. Hat wirklich jede eine andere Form? Ich strecke meine Hand aus. Ich spüre nichts. Mir kommt es vor, als ob sie um mich einen Bogen machen würden. Hinter mir schieben zwei Fahrradfahrer ihre Räder über die Brücke. Keine Fragen, keine Fürsorge. Ich komme mir verlassen vor. Ich schaue in den Himmel. Tausende von Sternen. Millionen. Ich erkenne die Sternbilder. Der Orion, die Wega. Der kleine Wagen sticht besonders heraus. Es scheint gerade so, als ob er auf mich zufliegen würde. Ich schließe meine Augen. Ich denke an meine Klasse. Jedes einzelne Bild stell ich mir vor. Jede einzelne Dummheit… Ich spüre wie ein Träne über meine Backe fließt. Ich errinerre mich, wie /(3)\ vor meinen Augen weinte. Ich konnte nichts tun. Wie sehr wünschte ich, ich hätte nicht so viel Mitgefühl. ‚Wieso gibt es hier keinen der mir zuhört?‘ Nur leblose Gestalten, die in ihren Autos sitzen. Dunkle Gestalten. Ich kann niemand erkennen. Niemand erkennt mich. Niemand kennt mich. Und die Flocken fallen weiter. Wie schön wäre es wenn… Ja, wenn was? Was kann ich mir den Wünschen? Kann ich mein Leben retten? Kann ich jemals wieder so viel Spaß haben? Diese Flocken, sie fallen einfach, lassen sich vom Wind treiben, sie sind frei. Ich nicht. Ich bin an Gefühle gebunden. Werde ich diese Gefühle wieder los? Kann ich loswerden? DARF ich sie loswerden? Bin ich dann noch ein Mensch? Wenn ich sie nicht loswerde, bin ich bald zwar Mensch, aber doch TOT.

Ich fasse einen Entschluss. Es geht nicht anders. Denke nur noch an die letzte Zeile des Liedes „Ein guter Tag zum Sterben“: Ich steig ins Auto fahre los, und denke hoffentlich, denkt die Frau, die mir gerade vor’s Auto läuft, genauso wie auch ich: Heut‘ ist ein guter Tag zum sterben…

Ich schaue hinab. ‚Ich muß Kopfüberlanden, sonst bin ich nicht vollkommen tot. Ich beuge mich. Ich springe ab. Langsam, ganz langsam kommt der Boden auf mich zu. Ich schließe die Augen. Ein zweites Mal erlebe ich mein Leben. Ein drittes mal? Ich weiß es nicht. Ich muß es nicht wissen. Ich spüre an meinen Ohren wie die Luft an mir vorbeizieht. Sie ist kalt. Ich geniesse es. Es ist der letzte Wind den ich spüren werde. Ein letztes einatmen.

Mein Kopf berührt etwas hartes…

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